Von der wunderbaren Enthaltsamkeit
Minne sonder Erkenntnis dünkt die weise Seele Finsternis.
Mechthild von Magdeburg
Köln, Ellikints Hurenhaus, am Abend des 29.1.1327
Nein, nicht noch einen Humpen von dem erzbischöflichen Kirschbier, stark, schwarz und süß, so herrlich es auch riechen und so köstlich es auch munden mochte. Mehr fasste Wilhelms Magen beim allerbesten Willen nicht, auch wenn der inzwischen einiges gewohnt war. Er fühlte sich randvoll abgefüllt. Aber sein hartnäckiger Freund ließ nicht locker.
»Einen noch, Bruder Wilhelm«, bettelte Bruder Hermann aufgekratzt, »damit dein Fiedelbogen macht, als wie du ihn heißt.«
Wilhelm gewahrte, dass sich das wundervolle Bier bei Bruder Hermann in schlechten Atem verwandelt hatte, und verzog angewidert das Gesicht. Sein eigener Atem würde wohl nicht besser sein.
»Weitere Sünden?«, lallte er in schwacher Gegenwehr. Sein schwerer Kopf dröhnte ihm, und er nahm das Wirtshaus nur verschwommen wahr. Es roch muffig in der engen Stube. Vereinzelt züngelten kleine blaue Flammen aus der Glut, wie um sich gegen das unvermeidliche Sterben des Feuers aufzulehnen. Erbarmungslos kroch die Kälte durch die allzu zahlreichen Ritzen der Wände. Wilhelm aber spürte nichts davon. An der Tür, die windschief im Rahmen hing, war auf dem Boden verschüttetes Bier schon gefroren. Nur ganz flüchtig streifte Wilhelm der Gedanke, dass sie, wenn sie denn gingen, aufpassen mussten, dort nicht auszugleiten. Kaum noch andere Gäste befanden sich im Raum. Wilhelm konnte nicht genau ausmachen, ob überhaupt noch welche da waren. Ellikint, die Wirtin von geheimnisvoller Schönheit, wollte schließen. Das wusste er. Sie legte mit deutlich vernehmbarem Klappern den Deckel auf das verbliebene Fass Bier, das neben dem Feuer stand, um es lecker warm zu halten. Sie entzündete auch keine weitere Kerze, und nachdem die vorletzte verloschen war, flackerte bloß eine vor Hermann und verbreitete den angenehmen Duft von Bienenwachs, den Wilhelm so sehr liebte. Mit einer schnippischen Drehung ihrer Schulter griff Ellikint nach dem einzigen Stück Käse, das noch auf dem Tisch vor Hermann lag. Hermann war jedoch schneller und stopfte es sich in den Mund.
Schluss machen, hallte es Wilhelm im Schädel. Was für ein Leben! Ellikints Mägde Gepa und Junta, eine erschien dem bierseligen Blicke betörender als die andere, kauerten dicht beieinander im hinteren Dunkel, wohin sie sich zurückgezogen hatten, denn sie hofften wohl eher, dass sie keine Geschäfte mehr machen würden … Ach ja, Geschäfte, Bruder Hermann zahlte ja gar kein Bettgeld. Das musste einen Grund haben, welcher ihm aber entfallen war. Oder hatte Bruder Hermann ihm diesen gar nicht anvertraut?
»Sie werden uns abgelassen, die Sünden, alle Sünden, darunter auch die schwersten! Hast du das vergessen, stumpfer Pickel?« Bruder Hermann puffte ihn kräftig und verschluckte sich an dem Käse. Beduselt, wie er war, hatte er zu heftig zugestoßen. Schwer wie ein nasser Sack fiel Wilhelm von dem groben Brett, das ihnen als Sitzgelegenheit diente. Wilhelm hatte wie stets, wenn er mit Bruder Hermann hier weilte, ganz am Rande gesessen, mit nur einer Arschbacke auf dem Brett, und war auch nicht weiter in die Mitte gerutscht, nachdem sich die Reihen der Gäste gelichtet hatten.
»So viel Stunden zählt kein Tag«, heulte Wilhelm auf den modrigen und verdreckten Bodendielen liegend, »als dass wir die Sünden beichten könnten, die wir begehen.«
»Elender Jammerlappen«, brachte Bruder Hermann zwischen Husten hervor, und einige Käsekrümel flogen im hohen Bogen durch die Luft. Einer traf in Wilhelms Auge, der Rest ging zu Boden und kullerte in die Spalten. Dort würde der Käse vergammeln und den Kriechtieren als Speise dienen. Nachdem Bruder Hermann ausgeprustet hatte, bückte er sich und griff Wilhelm fest in die Kutte, zog ihn hoch und warf ihn Gepa in die Arme.
Wie stark er doch ist, dachte Wilhelm bewundernd, fast wie ein stolzer Ritter voll männlichem Saft, ich wiederum bin ein fetter, wabbliger Mönch. Wenn es Bruder Hermann erlaubt wäre, sein dunkles Haar und seinen kräftigen Bart wachsen zu lassen und fürstliche Kleider zu tragen, würde er einen stattlichen Helden abgeben. Er könnte Drachen töten, anstatt seine strahlend blauen Augen beim Lesen von Buchstaben zu verderben; könnte zur Erbauung des Volkes das Herz einer anmutigen Prinzessin im Sturm erobern, anstatt sich heimlich der Huren bedienen und dafür schämen zu müssen.
»Mach, dass er diese Nacht nicht vergisst«, befahl Bruder Hermann Gepa, »trotz des zu viel genossenen Bieres. Schließlich muss er morgen vor dem Erzbischof eine ausgezeichnete Figur machen.«
Sich in ihr Schicksal fügend nahm Gepa Wilhelm in Empfang. Sie stützte ihn, damit er es die Treppe hinauf in die Kammer schaffte. Als sie bei Junta vorbeikamen, flüsterte sie ihr etwas zu, doch Wilhelm konnte nicht erfassen, um was es ging.
Wilhelm wusste genau, was er sagen wollte. Aber es war schwierig, den Mund dazu zu bewegen, es auch kundzutun.
»Freundschaft«, brabbelte er schließlich. »Ist sie nicht das herrlichste Geschenk des … des Herrn?«
Gepa legte Wilhelm sanft auf das wacklige Bett mit den einst sorgsam gedrechselten Seiten, die nun jedoch abgestoßen und grau waren. Sie deckte ihn mit einem zerschlissenen Kissen zu, aus dem das Stroh quoll. Wilhelm merkte erst jetzt, dass er zitterte, anscheinend also frieren musste, und war ihr dankbar. Es war der härteste Winter, seit er denken konnte, und die Älteren, deren Gedächtnis noch weiter zurückreichte, wussten auch kaum von einem schlimmeren Wüten der Kälte, ausgenommen jenes schreckliche Jahr des Herrn 1316, in dem so viele Menschen erfroren oder verhungert waren. Das warme Bier benebelte die Sinne, aber konnte den Leib dennoch nicht lange betrügen.
»Ein bisschen raubeinig ist er ja, dein Freund«, sagte Gepa und streckte ihre Füße zu Wilhelm unter das Kissen. »Aber na ja. Weißt du, Junta ist auch so eine. Immer borgt sie sich ein paar Pfennige von mir und gibt sie nie zurück, als hätte ich genug davon. Aber jetzt, da kann ich mich auf sie verlassen. Sie wird Hermann so trunken machen, dass er nicht hereinkommt mit ihr und Acht gibt, dass du tust, was er von dir erwartet. Ich kann mich auf sie verlassen. Sie ist meine Freundin. Und er ist dein Freund.«
Ich meinte nicht ihn, dachte Wilhelm, ich meinte dich. Oder euch. Er vergaß aber, es laut auszusprechen.
Gepa kicherte. Dann nahm sie vorsichtig seinen Arm und strich ihm sanft über den Ellbogen. »Tut es weh, wo du draufgefallen bist?«
Sie ist so gut zu mir, dachte Wilhelm. Gepa trug ein gelbes Tuch um den Kopf, so locker jedoch, dass ihre dicken braunen Haare überall herauslugten. Ihr Gesicht war weiß und fast ebenmäßig. Doch die Härte des Lebens zeichnete sich scharf in ihre Züge ein. Die Lippen waren jetzt blau, aber Wilhelm wusste, wie rot sie im Sommer waren. Er mochte das Funkeln in ihren dunklen, unergründlichen Augen. Der Kälte wegen hatte sie viele löchrige Kleider übereinander gezogen; soweit er es erkennen konnte, keines in einer anderen Farbe als Gelb, wie es ihr Stand nach dem weisen Ratschluss der Stadtväter gebot. Der viele Stoff machte ihre Formen fließender, und man konnte kaum erahnen, dass ein kräftiges, fast kantiges Weibsbild darunter verborgen war. Wilhelm erinnerte sich gut an das feste Fleisch ihrer Hüften. Verborgen. So sollte es auch bleiben, heute. Bald werde ich Magister der Theologie, frohlockte Wilhelm. Was habe ich bloß dieserorts zu schaffen? Muss Gott nicht einen solchen Heuchler wie mich bestrafen? Wenn er es aber nicht tut … na, dann ist er halt selbst schuld. Sagte der Meister Eckhart nicht immer wieder, es komme nicht auf die äußeren Werke an, sondern auf die inneren? Und dass sich im Bösen Gottes Herrlichkeit ebenso zeige wie im Guten?
»Bei den Barfüßern in Aachen«, setzte Wilhelm seinen Gedanken nun laut fort, »wo ich als Waise aufgewachsen bin, habe ich hungern müssen um des Herrn willen. Als sich der elfte Finger aufzurichten begann und manchmal des Nachts … du weißt schon, was tat …«, Gepa nickte, und Wilhelm nahm es als Zeichen, dass er das Peinliche nicht auszusprechen musste, »habe ich
Schläge bekommen … wurde hierher geschickt, weil ich einen starken Geist habe … doch mein Fleisch ist schwach … hier ist es umgekehrt, ist es umgekehrt, hier bekomme ich Schläge … von meinem Freund, umgekehrt, wenn ich …« Wilhelms Rede löste sich ins Unverständliche auf. Alles drehte sich in seinem Kopf.
Wie von weiter Ferne hörte er nach einer Weile, in der er völlig weggetreten gewesen zu sein schien, dass Gepa fragte: »Was sollte ich anstatt dessen tun?«
Wahrscheinlich hat sie mir die Geschichte ihres Lebens und Leidens erzählt, dachte Wilhelm, aber ich habe sie nicht mitbekommen. Was soll ich jetzt tun?
»Hast du schon mal daran gedacht, dich den Beginen anzuschließen?«, fragte er und hoffte, dass sie das als Antwort auf das nehmen konnte, was sie gesagt hatte.
Wilhelm sah, wie sich Zornesröte auf Gepas Gesicht ausbreitete. Wie hübsch sie doch ist!, dachte er.
»Dafür muss man im vierzigsten Jahr stehen«, schnaubte sie.
Ja, Wilhelm entsann sich der neuerlichen Verfügung des garstigen Herrn Erzbischofs: Nur Weiber, die mehr als vierzig Lenze zählten, sollten sich den Laienschwestern anschließen dürfen, die ein armes und keusches Leben im Dienst des Herrn führten, vornehmlich Witwen. Der ehrwürdige Vater wird schon seine guten Gründe dafür haben. Ehrwürdiger Vater? Erzbischof Heinrich? Morgen? Gute Figur machen? Ich muss geträumt haben. Das konnte er noch denken. Weiteres nicht.
*
Köln, Beginenkonvent der Bela Crieg,
am Abend des 29.1.1327
Demudis versuchte gerade, sich dem süßen Schlummer hinzugeben, als sie merkte, dass Schwester Godelivis neben ihr unter der Decke zitterte. In den vier Betten des Gemaches lagen immer drei Schwestern beieinander, aber es änderte sich oft, welche bei welcher. Nächst Schwester Godelivis schnarchte Schwester Mentha, die Älteste von ihnen. Es war Demudis, als wolle Schwester Mentha alle Bäume Kölns gleichsam eigennäsig absägen.
»Gütiger Gott«, sagte Demudis, »du wirst mir doch nicht krank werden!«
Fürsorglich rückte sie näher an die zitternde Godelivis heran. Sie war nicht kalt, aber hatte auch keine überschüssige Hitze. Schwester Godelivis war eine Magd, die noch nie einen Mann erkannt hatte, eigentlich viel zu jung für die Beginen, jedenfalls laut Verfügung des ehrwürdigen Vaters und Herrn Erzbischofs. Eigentlich. Aber es gab immer einen Weg, wenn man nur wollte. Die Eltern von Schwester Godelivis waren mit ihrer eigensinnigen Tochter nicht zurechtgekommen und wollten sie in ein Kloster geben. Da hatte sie sich verweigert, bis sie nach vielem Hin und Her einwilligte, sich den Beginen anzuschließen. Ihre Eltern mussten dafür nicht nur dem Konvent eine angemessene Stiftung machen, sondern auch den zornigen Erzbischof mit einigen Oboli beruhigen. Oboli halfen bei diesem alten Sack von Erzbischof immer, dachte Demudis belustigt. Wie konnte der Herr ihn nur so unglückselig lange am Leben erhalten, während er andere, würdigere Menschen viel früher zu sich befahl? Oder wenigstens hätte er ihm die Weisheit und die Milde des Alters geben sollen, wie Hechard, anstatt ihn mit Torheit zu schlagen! Der Grund für die ungewöhnliche Dauer von Erzbischof Heinrichs Leben hienieden konnte nur sein, dass Gott es so lange wie möglich herauszögern wollte, dessen Gesellschaft dulden zu müssen. Konnte er ihn nicht einfach zur Hölle schicken, auch wenn er Erzbischof war?, überlegte Demudis und grinste schuldbewusst in sich hinein.
Schwester Godelivis war wild, wild wie ein Bursche, eine richtige Maennyn, wie man so sagte. Im großen Ganzen konnten die Bewohnerinnen des Hauses mit ihr auskommen und sie bemuttern, bis auf Schwester Hardrun, mit der es immer nichts als Streit gab. Schwester Hardrun achtete streng auf Gottesfürchtigkeit. Dieselbe ließ Schwester Godelivis bisweilen vermissen, wenn sie auch nicht, wie Schwester Angela, allen hinterherstieg, denen Glocken zwischen den Beinen läuteten.
Der Atem von Schwester Godelivis ging stoßweise. »Was bist du doch unendlich schön, meine allersüßeste Jungfrau Maria!«, jauchzte sie und kuschelte sich eng an Demudis.
Demudis streckte den Arm aus und umfasste Schwester Godelivis. Es war angenehm, den jungen Körper zu spüren. Üblicherweise gerieten die Schwestern nicht abends vor dem Schlafen in Verzückung, vielmehr geschah dies morgens beim Erwachen. Aber es kam auch eher selten vor, dass die Schwestern die Vereinigung mit der Mutter Maria ersehnten statt mit ihrem Bräutigam, dem Herrn. Nichts an Schwester Godelivis war gewöhnlich.
Was bedeutete es wohl, fragte sich Demudis, dass sie selbst noch keine Erscheinung des Herrn oder der Jungfrau Maria gehabt hatte? Sie wusste, dass es nicht nur ihr, sondern auch Hechard bisweilen lästerlich anmutete, wenn die Schwestern den Herrn betrachteten, als breite er die beseligenden Arme für sie aus, um ihre Brautschaft zu empfangen, und senke sein Haupt, um ihnen den Hochzeitskuss zu geben, während er doch vom Menschen geschändet und leidend am Kreuze hing. Schwester Lora war einmal im Angesicht des Kreuzes so in Wallung geraten, dass sie sich, wie sie erzählte, ihrer Kleider vollständig entledigt und sich Ihm ganz hingegeben hatte. Demudis behielt ihre Einwände für sich. Immerhin waren es ihre Schwestern. Der Konvent war ihr Zuhause geworden in den beiden Jahren ihrer Witwenschaft. Jede musste selbst wissen, wie sie mit dem Herrn verkehren wollte. Es reichte, dass der Erzbischof es immer besser wusste und ständig neue Vorschriften erließ. Wie gut, dass die Beginen nicht dem Weltklerus unterstanden, sondern den Predigerbrüdern, die Hechard zu den ihren zählten, den Gelehrtesten und Gütigsten unter den Menschen.
Ein leichtes Kribbeln verbreitete sich über ihren Körper, als sie an Hechard dachte. Er war kein Mann wie die anderen, die Weibern wie ihr Gewalt antaten und hinab in den Schlund der Hölle gehörten.
Schwester Godelivis war, wie Demudis meinte, eingeschlafen, aber bewegte wohl unwillkürlich die Hand angenehm sanft über Demudis’ Tütelin, und bald war auch Demudis selbst mit einem seligen Seufzer entschlummert. Trotz des ohrenbetäubenden Rasseins aus Schwester Menthas Nase.
*
Köln, Barfüßerkloster, am Abend des 29.1.1327
Nach der Vesper würde Hanß ein wenig allein sein können. Er liebte die Brüder, war aber doch froh, nun als Abt der Barfüßer ein eigenes Haus beanspruchen zu können, um für sich zu sein, wenn ihm danach war. Er würde Gott um Gnade für die Sünden seiner Mutter bitten, die er so sehr vermisste. Wenn ihn sein kaputtes Auge schmerzte, dachte er sogar bisweilen noch an Agnes. Würde der Herr diesen Stachel nie aus seinem Fleische entfernen? Gebenedeite Jungfrau, voll der Gnaden, betete er zu Maria, der Mutter Gottes, bitte lass mir deine keusche Liebe genug sein!
Als die Brüder die eiskalte Kirche verließen und ins nicht weniger kalte Dormitorium strömten, um sich zur Ruhe zu begeben, und Hanß zum Abthaus abbog, gewahrte er zunächst nur undeutlich, dass sich jemand neben ihn gedrängt hatte. Er schaute auf. Es war ein gewaltiger Fettberg, Bruder Dirolf, einer seiner fähigsten Mitstreiter, wenn er ihm auch mitunter etwas engstirnig vorkam. Die einzige Sünde, die er sich erlaubte, war es, soweit Hanß wusste, seinem ungeheuren Hunger nachzugeben.
»Ich brauche dein Ohr für eine Kerzenlänge«, sagte Bruder Dirolf keuchend.
Hanß nickte. Es würde wohl nichts werden aus der beschaulichen Einsamkeit vor dem Schlafen. Für morgen hatte ihn der ehrwürdige Vater und Herr Erzbischof Heinrich einbestellt. Da musste er ausgeschlafen sein, denn ihm schwante nichts Gutes. Zwar war ihm der Grund der Unterredung nicht mitgeteilt worden, aber Hanß hatte gehört, dass Erzbischof Heinrich sich wieder mit dem Vorhaben trug, gegen diejenigen das Schwert zu erheben, die er der Ketzerei zieh – Bettelorden, Barfüßer, Prediger, Begarden, Beginen, Brüder und Schwestern des freien Geistes, den berühmten Meister Eckhart: Alle wurden in einen Topf geworfen, ohne einen Unterschied zu machen! Es war Hanß zuwider, sich mit diesen eines Christen unwürdigen Händeln der Welt herumzuplagen, bei denen die Glaubensdinge nur zum Vorwand im gotteslästerlichen Ringen um Macht und Geld dienten.
Bruder Dirolf war rücksichtsvoll genug, um auf dem Weg über den verschneiten Kreuzgang und den vereisten Vorhof ins Abthaus nichts zu sagen. Sie mussten vorsichtig auf ihre Schritte in der Dämmerung Acht geben, um nicht auszugleiten. Im Abthaus angelangt, holte Hanß einen Krug Wein und entzündete eine Kerze. Er setzte sich, und Bruder Dirolf ließ sich neben ihm schwer auf den Stuhl fallen. Hanß befürchtete schon, der Stuhl würde auseinander brechen unter dem Gewicht des Bruders, aber er knarrte nur, wenn auch bedenklich, und hielt Stand.
Bruder Dirolf wischte sich mit der Hand den Schweiß aus dem Gesicht und stöhnte. Wie kann er trotz der Kälte derart schwitzen?, dachte Hanß flüchtig.
»Es geht um diesen Prediger, Johannes Eckhart, den sie den Meister nennen; die Weiber rufen ihn Hechard«, begann Bruder Dirolf düster. Seine Stirn zeigte tiefe, speckige Sorgenfalten. »Er lehrt Dinge, die gegen den Glauben gehen.«
»So, so«, knurrte Hanß, um etwas zu sagen. Das war kein Gesprächsstoff, den er liebte. Es reichte, wenn der Erzbischof ihn nötigen würde, sich damit zu befassen.
»Er sagt zum Beispiel, die äußeren Werke wie die der Keuschheit seien nichts wert, denn es käme vielmehr bloß auf den Willen an, den guten Willen. Und dann, wenn man mit gutem Willen handele, wäre, gleich was man täte, die Übereinstimmung mit dem Willen des Herrn bereits gegeben«, fuhr Bruder Dirolf fort, ohne sich durch Hanß’ abweisende Art abschrecken zu lassen.
»Das wird den Weibern, den Beginen, nicht gefallen, die sich so in der Zucht ihrer Körper üben«, sagte Hanß und lachte Bruder Dirolf an. Vielleicht ließ sich die Angelegenheit ins Närrische ziehen und auf diese Weise abtun und übergehen. Denn jeder wusste doch, dass das, was man von den Beginen erwartete, von ihnen bloß überaus selten auch eingelöst wurde.
»Und doch lieben sie ihn über alles«, sagte Bruder Dirolf abschätzig.
»Wir haben mit derlei nichts zu tun«, beschied ihn Hanß. Er musste also doch noch deutlicher werden! »Wir folgen dem heiligen Franz in seiner Einfachheit, Demut und Armut und tun damit unserer Christenpflicht genüge.«
»Ich weiß, dass du so darüber denkst.« Bruder Dirolf wurde hitziger. Hanß meinte, einen anklagenden Unterton zu vernehmen. »Aber vielleicht sind die Unterschiede zwischen den Beginen und Eckhart geringer, als du wahrhaben willst. Was dieser Eckhart lehrt, hört sich gefährlich nach dem an, was auch die ketzerischen ›Brüder und Schwestern des freien Geistes‹ gesagt haben. Und was ist aus der einen geworden, die du vor dem gerechten Zorn des ehrwürdigen Vaters und Herrn Erzbischof Heinrichs gerettet hast? Eine Hure!«
»Die Wege des Herrn sind unerforschlich«, wich Hanß müde aus. »Er verlangt von uns, jedem Sünder, auch dem verderbtesten, die Möglichkeit offen zu halten, sich aus eigenem Willen zu Ihm zu bekehren. Denke an den heiligen Augustinus, der es uns in seinen Bekenntnissen überliefert hat, welch sündiges Leben er geführt hat …« Leise fügte Hanß hinzu: »Und an mich.«
»Doch kann es nicht geduldet werden, dass Derartiges auch noch gepredigt wird und damit die zarten Gemüter der Leute, die sich wie Schilfrohr im Winde biegen, ins Verderben gestoßen werden«, ereiferte sich Bruder Dirolf. Sein Mund zuckte, und von der Stirn tropfte eine Schweißperle auf den Tisch. »Das darf nicht geduldet werden! Die Kirche muss dem Einhalt gebieten!«
Hanß fühlte die heftigen Worte wie Peitschenhiebe im Kopf. »Bruder Dirolf, du bist so wundersam rechtschaffen. Dein Eifer für den Herrn ist überaus löblich.« Er breitete die Hände aus. »Aber ich bitte dich, vertraue mit mir auf das Tun des Herrn. Lass uns im Gebet vereinigt sein mit allen christlichen Seelen und ihre Errettung erflehen.«
An der Stirnseite der engen Abtstube befand sich ein Kruzifix mit einem kleinen Altar davor. Die Magd hatte ein paar frische Tannenzweige darauf gelegt. Hanß erhob sich und ging vor dem Altar auf die Knie. Er begann zu beten. Er versank ganz in Gedanken und genoss die süße Zuneigung des Herrn. Als er sich erhob, sah er, dass Bruder Dirolf gegangen war. Hanß stöhnte erleichtert auf. Wie konnte er sich den Brüdern verständlich machen?
Er trank noch den letzten Schluck Wein und bettete sich dann. Wie vorgeschrieben, entkleidete er sich nicht. Im Winter war das eine durchaus erfreuliche Regel. Ganz anders verhielt es sich in der Hitze des Sommers. Hanß dachte an den Sommer, als er die klamme Decke über sich zog. Die Hände waren ihm kalt, und so führte er sie zwischen die Schenkel, um sie zu wärmen. Ihn ergriff eine schier unbezwingliche Sehnsucht. Kein Mensch kann keusch sein und sich gegen die fleischlichen Gelüste wappnen, wenn er nicht die gnädige Mithilfe des Herrn dazu findet, hatte der heilige Augustinus gesagt, entsann sich Hanß, während er sein steifes Dynck rieb. Darum also wird es wohl Sein Wille sein. Hanß versuchte noch, sich für seine Gedanken zu hassen, aber das Bild der unwiderstehlich liebreizenden Magd Agnes schob sich davor. Sie erstrahlte vor seinem Auge in ihrer ganzen herrlichen Wunderbarkeit. Es war nicht frostiger bösartiger Winter, sondern warmer, mildtätiger Sommer. Ihre festen runden Tutten mit den kecken rosigen Wertzlin, ihre gut geformten Hüften, der verführerische Duft ihrer samtweichen Haut wurden so gegenwärtig, dass Hanß meinte, er könne sie spüren. Allein diese Erinnerung war das eine Auge wert, das er um ihretwillen hatte hingeben müssen. Schließlich konnte er auch mit dem anderen Auge noch genug sehen!
Doch schnell, allzu schnell war es vorbei, und die Kälte hatte ihn wieder eingeholt. Was bin ich für ein niedriges Geschöpf, haderte Hanß mit sich, dass ich für derart flüchtige Freuden das ewige Seelenheil aufs Spiel setze und dem elenden Genuss keine Schranken setzen kann! Wie viel glücklicher wäre ich, wie es in der Schrift heißt, als einer derjenigen, »die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen«, o heilige Jungfrau, in Erwartung deiner seligen Umarmung. Aber nein, ein Verschnittener hat ja keinen Zugang zum Himmelreich, wie es im Buch Mose heißt, so danke ich dir, o Gott, dass ich sündigen darf.
Lange fand Hanß keinen Frieden, ehe ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen.